Der Bigamie-Berufungsprozess Schall vom 2.7.1863

Mein Alturgroßvater Heinrich Ferdinand Schall wurde am 31. Mai 1828 in Labes, Kreis Rergenwalde, Bezirk Stettin in Pommern als Sohn der Eheleute August David Schall und Wilhelmina geb. Spiegel geboren. Später wohnten sie in Dramburg, Bezirk Köslin. Die weitverzweigte Familie war seit Generationen als Messerschmiede tätig.

Während seine Brüder das Messerschmiedehandwerk erlernten oder, durch Heirat bedingt, als Müller und Leineweber tätig waren, zog es meinen Ahn zum Militär. Das aufstrebende Preußen brauchte Soldaten und so wurde er bald zum Unteroffizier befördert. Mit seiner Einheit, dem Infanterie-Regiment von Lützow Nr. 25 (später: 25. Rhein. Inf.Rgt.) kommt er nach Koblenz und ist auf der Festung Ehrenbreitstein stationiert. Das Regiment ist Nachfolger des legendären „von Lützow´schen Freikorps", das in den Befreiungskriegen gegen Napoleon eine herausragende Rolle spielte. Die schwarze Uniform mit roten Aufschlägen und goldenen Knöpfen wurde später ein Vorbild für die Farben der Burschenschaften und somit der Farben der deutschen Nationalflagge.

Hier lernte er die aus dem Nachbarort Urbar stammende Anna Sophia Deurer (* 13. Januar 1832) kennen und lieben. Die strengen Sitten verhinderten die erforderliche Zustimmung des Regimentes für eine Heirat der beiden. Trotzdem gingen aus der Verbindung bald drei Söhne hervor. Im Taufbuch der Pfarrei Niederberg wurden die Kinder als illegitime Kinder mit dem Familiennamen der Mutter, Deurer, eingetragen. Bei allen Einträgen ist der Unteroffizier Heinrich Ferdinand Schall als Vater mit eingetragen.

Nach Beendigung seiner Dienstzeit dann konnten die beiden endlich heiraten. Der Pfarrer von Niederberg hat die Heirat am 18. Oktober 1859 der katholischen Anna Sophia mit dem evangelischen Heinrich Ferdinand nach bischöflicher Dispens im Pfarrhause geschlossen. Entgegen den sonstigen kurzen einzeiligen Einträgen, wurde diese Ehe im Kirchenbuch ausführlich beschrieben. Der Bräutigam legitimierte hier die drei vorehelichen Kinder und erklärte, seine Kinder im katholischen Glauben zu erziehen. . Der ganze Eintrag wurde im Kirchenbuch von den beiden Brautleuten, den beiden Trauzeugen und dem Pfarrer unterschrieben.

Im Taufbuch strich der Pfarrer bei den drei Einträgen den Mutternamen Deurer und ersetzte ihn durch den Vaternamen Schall.

Offensichtlich bekam Heinrich Ferdinand Schall nach Ableistung seiner Dienstzeit als Unteroffizier eine Beamtenstelle zugewiesen, denn beim Geburtseintrag seines 4. Kindes wird er als Steuerbeamter bezeichnet

Aufrgrund dieser Unterlagen war ich der Meinung, in meinem Alt-Vater einen „honorigen" preußischen Soldaten und Beamten als Vorfahr zu haben.

Vor kurzem jedoch wurde ich von einem verwandten Mitforscher, der im Internet nach seinem Namen Deurer gesucht hatte, auf ein Urteil hingewiesen, das die Sicht auf meinen Vorfahren grundlegend verändert.

Im „Archiv für preußisches Strafrecht", einer Zeitschrift für Gerichte und Anwälte, wurden bemerkenswerte Urteile veröffentlicht, die dann sozusagen als Anleitung in ähnlich gelagerten Fällen dienten.

Im elften Band von 1863 ist ein Berufungsprozess in einem Bigamiefall beschrieben. Während die Namen der beiden Frauen genannt werden, ist der Mann nur als der Angeklagte bezeichnet. Anhand der Ortsnamen und Daten ist eine Zuordnung jedoch zweifelsfrei möglich.

Die Musterwirkung des Falles vom 2. Juli 1863:
㤠139 des Strafgesetzbuches:
Bigamie, wenn eine der Ehen auch nur nach dem Ritus der katholischen Kirche bei Mischehen ohne Einsegnung geschlossen ist"

hat ihn in die Sammlung gebracht, wodurch er uns heute noch erhalten ist. Die Suche nach dem Originalurteil und den vorhergehenden Prozessakten blieb sowohl bei den Landeshauptarchiven als auch in den Gerichtsarchiven ergebnislos. Die Beschwerde wurde zurückgewiesen und das Urteil bestätigt. Leider jedoch, ohne die Bestrafung nochmals dezidiert aufzuführen.

Was war geschehen? Heinrich Ferdinand hatte am 15. Februar 1862 in Hamm (Westfalen) ein zeites Mal geheiratet und war wegen Bigamie verurteilt worden. In seiner Berufung versuchte er, die Ungültigkeit der ersten Heirat zu beweisen. Dabei griff er die Art und Form dieses Heiratsaktes an. Die vorgebrachten Gründe griffen stark in das Zusammenwirken zwischen der zivilen und kirchenrechtlichen Handhabung ein. Im rechtsrheinischen Niederberg gab es, im Gegensatz zu den linksrheinischen Gebieten, noch keine Ziviltrauung und die kirchlichen Akte waren rechtsgültig.

Kurz nach der Heirat mit der Berta Nelle in Hamm wurde er dort auch schon Vater. Als sein Beruf wird hier Eisenbahnbeamter angegeben. Nach Aufhebung der zweiten bigamistischen Ehe gebar ihm seine zweite Partnerin am 30. September 1863 ein weiteres Kind, das als unehelich auf den Familiennamen der Mutter eingetragen wurde."Der Vater Ferdinand Schall sitzt wegen Bigamie im Zuchthause", steht im Geburtseintrag.

In welchem Gefängnis er einsaß, konnte ich nicht ermitteln. Weder bei den Staatarchiven in Koblenz (zuständig für die erste Ehe) noch in Hamm (zweite Ehe), bei den Staatanwaltschaften noch bei den Gerichtsakten ist etwas aufzufinden.

Auch über den weiteren Lebensweg und seinen Tod fand ich bisher keine Informationen. Vielleicht hat ein Leser dazu einen Tipp?

In der Urteilsbegründung werden schön die damals gültigen kirchenrechtlichen Heiratsregeln und ihre Auswirkungen auf die zivilrechtliche Ehe aufgeführt. Daher nehme ich an, es ist für manchen Leser von Interesse. Daher nun der ganze Wortlaut:

 

 

Archiv für preußisches Strafrecht,
Band 11 , Berlin 1863, Seite 719-721

§ 139. des Strafgesetzbuches. Bigamie, wenn eine der Ehen auch nur nach dem Ritus der katholischen Kirche bei Mischehen ohne Einsegnung geschlossen ist.

Der Angeklapte, welcher evangelischer Konfession ist, hat sich mit der Katholikin Sophie D. in der Art ehelich verbunden, daß der Bischof für die letztere die Dispensation zur Eingehung einer Ehe gemischter Konfession unter den für eine solche Ehe von der Kirche aufgestellten, von dem Tridentiner Konzil vorgeschriebenen Bedingungen und Formen, namentlich des Angelöbnisses der Erziehung der Kinder in der katholischen Konfession ertheilt, un dsodann ohne Aufgebot und pristerliche Einsegnung, außerhalb der Kiche in der Wohnung des Pfarrers der Braut zu Niederberg unter blos passiver Assistenz des letzteren und in der Gegenwart zweier Zeugen die gegenseitige Erklärung über die Eheschließung abgegeben, und dieser Akt in die Kirchenbücher eingetragen ist.

Später hat sich sodann der Angeklagte mit der evangelischen Bertha N trauen lassen.

Er ist wegen Bigamie angeklagt, durch die Geschworenen nach dem unten zu erwähnenden Verdikte schuldig erklärt und deshalb aus § 139 des Strafgesetzbuches verurtheilt.

Seine Nichtigkeitsbeschwerde greift die Annahme der Rechtsbeständigkeit der ersten Ehe an. Denn dieselbe sei hier nicht nach den Gesetzen des Orts, zu welchem die katholische Braut gehört, zu beurtheilen, weil sämmtliche Protestanten der Bürgermeisterei Ehrenbreitstein, zu welcher Niederberg gehöre, nach Koblenz eingepfärrr seien, und von dessen Pfarramt die Amtsfunktionen verrichtet würden, daher auch von dem letzteren ein Losschein hätte ertheilt werden müssen, bei gemischten Ehen die Zeugen beiderlei Glaubensbekenntnisses sein müßten, was nicht der Fall gewesen, endlich aber die Trauung nicht den Vorschriften des katholischen Kirchenrechts entsprochen habe.

Die Beschwerde ist durch Urtel vom 2 Juli 1863 wider Schall (Nr 272 I) zurückgewiesen.

Gründe

Auf die den Geschworenen gestellt gewesene Frage, hinfichts deren es allerdings zweckmäßig gewesen sein würde, darin auch den Pfarrer L als katholischen Pfarrer zu bezeichnen, sowie des Umstandes Erwähnung zu thun, daß der Angeklagte evangelischer, die Sophie D aus Urbar aber katbolischer Konfession ist, ist durch den Ausspruch der Geschworenen festgestellt worden:
daß der Angeklagte schuldig ist, am 15 Februar 1862 zu H mit der Karoline Bertha Nelle in die Ehe getreten zu sein, ohne daß die Auflösung der Verbindung stattgefunden hat, welche er mit der Sophie Deurer aus Urbar am 18. Oktober 1859 zu Niederberg dadurch eingegangen ist, daß er und letztere vor dem dortigen Pfarrer L und zwei erwählten Zeugen nach vorher zur Schließung einer Mischehe eingeholter bischöflicher Dispensation, beiderseitig eine Erklärung des Inhalts abgegeben haben, daß sie sich zu Ehegatten nähmen.

Bei der Formulirung der diesem Ausspruche zu Grunde liegenden Frage hat der Schwurgerichtshof die darin angegebenen Spezialien über die Form der Eingehung der Ehe des Angeklagten mit der Sophie Deurer, unter Vermeidung des Ausdrucks „Ehe", deshalb so viel ersichtlich aufgenommen, weil er die Entscheidung der Frage, ob die danach eingegangene Verbindung eine „Ehe" sei, als die einer Rechtsfrage sich vorbehalten wollte.

Er hat diese Frage bejaht und demzufolge den §. 139. des Strafgesetzbuchs gegen den Angeklagten zur Anwendung gebracht. Die Gründe, durch welche er sich hierbei leiten lassen sind von ihm in dem Urtelsgründen dahin angegeben worden:

daß die gedachte Verbindung allen Erfordernissen entspreche, welche rechtlich zur Eingehung einer gültigen Ehe im vorliegenden Falle gehörten, weil

1) die Rechtsgültigkeit der Ehe, nach den Gesetzen des Ortes, an welchem sie geschlossen worden, in diesem Falle daher nach gemeinem Rechte zu beurtheilen sei;

2) die Erklärung der Brautleute vor dem kompetenten Pfarrer, des Bräutigams, der Braut und zwei Zeugen daß sie einander zu Ehegatten nehmen, gemeinrechtlich eine gültige Eheschließung darstelle;

3) hieran auch durch den Umstand nichts geändert werde, daß im vorliegenden Falle der Bräutigam evangelischer Konfession gewesen sei und bei den Protestanten die priesterliche Einsegnung oder Trauung herkömmlich als Erforderniß einer gültigen Eheschließung angesehen werde, da einmal unter dem Begiffe der Trauung, der Einsegnung, nicht allein die Ertheilung des priesterlichen Segens im engeren Sinne, sondern überhaupt der ganze Akt der Kopulation durch den Pfarrer, bei welcher die Ertheilung des Segens nur als ein untergeordnetes Moment zu betrachten, zu verstehen sei, dann aber auch bei gemischten Ehen die Heirath unzweifelhaft vor dem Pfarrer des einen oder anderen Theils für beide Eheleute gültig geschlossen werden könne, jeder Pfarrer bei der Kopulation nur denjenigen Ritus zu beobachten habe, der für ihn nach kirchlichen Gesetzen vorgeschrieben sei und die im vorliegenden Falle von dem katholischen Pfarrer vorgenommene Trauung den Vorschriften des katholischen Kirchenrechts entspreche.

Diese Gründe enthalten nicht, wie in der Nichtigkeitsbeschwerde behauptet wird, einen Rechtsirrthum, und es ist auf den festgestellten Tatbestand der §. 139. des Strafgesetzbuchs nicht unrichtig angewendet worden.

Nach dem katholischen Kirchenrechte wird zur Eingehung einer Ehe (als matrimonium ratum) wesentlich nur die vor dem Pfarrer der Braut o d e r des Bräutigams und vor zwei Zeugen gegenseitig erklärte Einwilligung, miteinander in die Ehe zu treten, erfordert, nicht auch die priesterliche Einsegnung, und es begründet auch der Mangel vorgängigen Aufgebots keine Nichtigkeit (kein impedimemtum dirimens). Allerdings ward dagegen nach dem protestantischen Kirchenrechte der meisten Länder Deutschlands zur Eheschließung, - außer jenem gegenseitig vor dem Pfarrer und Zeugen erklärten Konsense und vorgängigem, beim Unterbleiben desselben jedoch auch eine Nichtigkeit nicht begründenden, Aufgebote - die priesterliche Einsegnung erfordert, so daß für diese bei gemischten Ehen hinsichts des protestantischen Theils wohl die Mitwirkung des protestantischen Geistlichen verlangt wird. Allein als eine gemeinrechtlich wesentliche, den Beginn einer civilrechtlich gültigen Ehe bedingende Form der Eheschließung ist solche priesterliche Einsegnung namentlich bei gemischten Ehen nicht zu betrachten, vielmehr läßt sich als solche wesentliche kirchliche Feierlichkeit bei Eingehung der Ehe auch nach dem gemeinen protestantischen Kirchenrechte nur die in Gegenwart des Pfarrers und der Zeugen wechselseitig abgegebene Er klärung, sich einander als Ehegatten anzunehmen (als Trauung im weiteren Sinne), ansehen.

Richter, Lehrbuch des Kirchenrechts §. 273.

Wenn in dieser Form eine Ehe geschlossen ist, besteht sie in formeller Gültigkeit, so lange ihre Auflösung nicht durch Tod, resp. Todeserklärung eines der Verbundenen oder rechtskräftige richterliche Scheidung oder Nichtigkeitserklärung erfolgt ist, dergestalt, - auch mit civilrechtlicher Wirkung - daß der eine neue Ehe eingehende Ehegatte dem die Bigamie bedrohenden Strafgesetze verfällt. Hat bei solchem Akte vor dem Pfarrer ein oder der andere Theil sich zur Abgabe eines von ihm durch den Pfarrer dahin geforderten Versprechens, den anderen Theil zu seinem Glauben bekehren zu wollen, oder die Kinder, abweichend von der gesetzlichen Regel, in der Konfession der Mutter erziehen zu lassen verstanden, so steht auch dies der Gültigkeit und civilrechtlichen Wirksamkeit der von ihm vor dem Pfarrer eingegangenen Ehe nicht entgegen, wenn auch ein solches Versprechen nichtig ist, und der Staat die Forderung desselben als einen Mißbrauch ansieht, durch welchen sich der dasselbe abnehmende Pfarrer dem Staate verantwortlich macht (Kabinets-Ordre vom 17. August 1825; Deklar. vom 21. November 1803, Ges.-Samml. 1825 S. 221, 225; v. Kamptz Jahrb. Bd. 51 S. 108, 104, vergl. auch S. 107, 119 – 122).

Hiernach und da auch für die Form einer Eheschließung die Regel gilt, daß diese Form nach dem Rechte des Ortes, wo die Ehe eingegangen ist ,sich bestimmt (Entsch. Bd 29. S. 380,1., 386 – 391, Bd. 37. S. 8, 9, unterliegt es keinem Bedenken, daß von dem Angeklagten, durch den Akt, wie er durch den Ausspruch der Geschworenen festgestellt ist, am 18. Oktober 1859 die Ehe mit der Sophie Deurer eingegangen war.

Alles was dagegen und gegen die Anwendung der Strafbestimmung des §. 139. des Strafgesetzbuchs sonst in der Nichtigkeitsbeschwerde vorgebracht worden ist, ist gehaltlos. Denn mögen auch (zu I. derselben) die protestantischen Einwohner der Bürgermeisterei Ehrenbreitstein zu dem evangelischen Pfarramte zu Koblenz eingepfarrt sein, so war dies doch kein Hinderniß für den Angeklagten, die Ehe vor dem katholischen Pfarrer der Braut zu Niederberg gültig einzugehen. Eines Losscheins (dimissoriale) jenes Pfarramts bedurfte es dazu, wie der Angeklagte (zu 2. seiner Nichtigkeitsbeschwerde) vermeint, um so weniger, als zu gegenseitigen Parochiol-Handlungen der katholischen und evangelischen Geistlichen es der Staatserlaubniß nicht mehr bedarf (Minist.-Verf. vom 11. März 1849 im Verwaltungs-Minist.-Bl.). Die Behauptung des Angeklagten (zu 3.) , daß bei Eingehung einer gemischten Ehe nothwendig Zeugen beiderlei Glaubensbekenntnisses zugezogen werden müßten, ist irrthümlich; wie es ebenso die Angabe des Angeklagten (zu 4.) ist, wonach der Akt der Eingehung der Ehe vor dem katholischen Pfarrer zu Niederberg den Vorschriften des katholischen Kirchenrechts in sofern nicht entsprochen haben soll, als die dazu erforderlichen Papiere nicht von ihm (dem Angeklagten) beigebracht und der Pfarrer dabei nicht im Ornate gewesen sei, auch keinen Segen ertheilt habe.